SchlagwortNahrung

Das Wort Weide bezeichnete ursprünglich die Suche nach Essen.
Wir kennen sie als Futterquelle für unser Vieh. Im Althochdeutschen sprach man von weida als Begriff für Nahrungsgewinn oder Futter. Dieser Nahrungserwerb war nicht auf Pflanzenkost begrenzt.
Im Altenglischen bedeutet wāþ Jagd, während die Altnordischen auf die veiðr gingen.

Bedeutung

Eine Augenweide hat auf den ersten Blick nichts mit Essen zu tun. Denn wir beschreiben damit einen aussergewöhnlich schönen Anblick, den etwas oder jemand bietet.

Stell dir vor, du erblickst etwas, das dir die Sprache verschlägt. Du betrachtest es voller Ehrfurcht. Deine Augen können sich kaum satt sehen. Sie weiden sich regelrecht im Anblick dieser ästhetischen Erscheinung.

Ähnlich ergeht es manch einer Kuh auf einer saftigen Wiese. Auch sie weidet – im Sinne von grasen – und scheint selbst nach stundenlangem Wiederkäuen, nicht genug zu haben.

Herkunft

Das Determinativkompositum aus Auge und Weide bildete sich im mittelhochdeutschen ougenweide oder öugelweide (Diminutiv). Damals bedeutete Weide Nahrung oder Speise. Direkt übersetzt Augenmahl oder Augenschmaus – ein weiterer Begriff, der sich als Synonym zur Augenweide bis heute hält.

Mittelhochdeutsch meint die Sprachstufe des Deutschen, dass die Menschen im ober- und mitteldeutschen Raum zwischen 1050 und 1350 gesprochen haben. Eine bewegte Zeit, aus der die berühmteste Dichtung der Erzählung von Tristan und Isolde stammt. Damals ist sie eine weit verbreitete mittelalterliche Sage im Stil der Legenden um König Artus und seiner Tafelrunde.

Die Fragmente eines Epos

Der Dichter Gottfried von Strassburg bearbeitet den Stoff der mündlich überlieferten Erzählung um 1210. Er begann daraus einen Versroman zu schreiben, der heute als die klassische Form der Tristan-Saga gilt. Doch Gottfried vollendet sein Werk nicht. Er stirbt um das Jahr 1215 und hinterlässt einen fragmentarischen Roman mit offenem Ausgang.

Fremde Autoren nehmen seinen Faden auf. Noch im selben Jahrhundert erscheinen zwei Fortsetzungen, welche die Geschichte fertig erzählen. Die erste verfasst Ulrich von Türheim vor 1243. Er hält sich nicht an die französische Vorlage, an die sich Gottfrieds Zeilen orientierten. Stattdessen nimmt Ulrich die allererste deutsche Bearbeitung des Tristan-Stoffes, von Eilhart von Oberg, zum Vorbild.

Die zweite Fortsetzung blieb den Wurzeln von Gottfrieds Werk treu. Dessen Autor, Heinrich von Freiberg, schrieb sie um 1280 im Auftrag eines reichen, böhmischen Barons.

Bruchstücke aus Heinrich von Freibergs Fortsetzung des Tristans

In den Zeilen von Heinrichs Fortsetzung finden sich zwei der ersten schriftlichen Verweise des Wortes Augenweide. Doch bevor wir zu diesen Abschnitten springen, lass mir dir den Mittelalter-Epos «kurz» zusammenfassen.

Tristan und Isolde nach Gottfried von Strassburg und Heinrich Freiberg

Tristan wird als Sohn von Riwalin, dem König von Lohnois, und dessen Gemahlin Blanscheflur, der Schwester des Königs Marke von Cornwall geboren. Sein Vater stirbt im Krieg, woraufhin seine Mutter an ihrem Kummer umkommt. Tristan wächst in der Obhut eines Freundes seines Vaters auf und weiss nichts von seiner adeligen Herkunft. Dies ändert sich, als er entführt wird, in Cornwall landet und dort seinen Onkel König Marke kennenlernt. Tristan erfährt obendrein, wer seinen Vater ermordet hat und schwört Rache. Er spürt den Täter Morgan auf und tötet ihn bei einem Duell.

Auf den Geschmack gekommen mordet Tristan gleich weiter. Es trifft Morold, der Sohn des Königs von Irland, der seinen jährlichen Tribut von Tristans Onkel Marke fordert. Obwohl Tristan gewinnt, verletzt Morold ihn mit vergifteter Klinge. Das Gegengift bietet niemand geringeres als Morolds Schwester Isolde 1 in Irland. Dort trifft er zum ersten Mal auf seine zukünftige Geliebte Isolde 2, die Tochter der gleichnamigen Mutter.

Isolde 2 wird König Marke zur Ehefrau versprochen. Tristan soll dessen Antrag übermitteln und Isolde nach Cornwall eskortieren. Auf der Fahrt zurück passiert das Missgeschick. Tristan und Isolde 2 trinken aus Versehen von einem Liebestrank, der von Isolde 1 für ihre Tochter und König Marke bestimmt war.

Die royale Ehe wird dennoch vollzogen. Tristan und Isolde lieben sich heimlich hinter dem Rücken König Markes. Eines Tages kommt ihnen der König auf die Schliche und Tristan flieht nach Deutschland.

Dort trifft er auf Isolde 3 (damals wohl ein beliebter Vorname) und verliebt sich in diese. Bei einem Krieg auf dem Kontinent wird Tristan (erneut) vergiftet und benötigt (erneut) die Hilfe von Isolde 1. Sie kennt eine Heilsalbe, die Tristans Leben retten kann, doch die Zeit eilt. Da England näher liegt und auch Isolde 2 über die Salbe Bescheid weiss, macht sich ein Bote auf den Weg. Er soll die Exgeliebte Tristans herbringen, denn sie ist seine letzte Hoffnung. Kehrt der Bote mit Isolde 2 zurück, soll er ein weisses Segel hissen, anderenfalls ein schwarzes.

Die Mission glückt und es nähert sich ein Schiff mit weissen Segeln. Isolde 3 fürchtet sich vor dem Treffen ihres Ehemannes mit dessen Exfreundin und wird eifersüchtig. Auf Tristans Frage hin erklärt sie ihm, das Schiff habe schwarze Segel gehisst. Damit verliert Tristan seine letzte Hoffnung und stirbt Augenblicke vor seiner Rettung. Isolde 2 trifft dieser Verlust so schwer, dass sie ihrer einstigen Liebe wenig später ins Grab folgt.

Diese Zusammenfassung lässt viele Details aus. Gottfried von Strassburgs Fragment umfasst ca 20’ 000 Verse. Mit Heinrichs weiteren 6’890 ergibt das eine Gesamtlänge von 26’ 890 Versen. Geschätzt füllen die Zeilen somit ein Taschenbuch von 1’250 Seiten. Im Vergleich zu heutigen Songtexten ein wahres Ungetüm.

Die öugelweide

Wir begegnen dem Wort Augenweide zum ersten Mal vor der Hochzeit von Tristan und Isolde 3. Sie feiern diese im grossen Stil und laden Menschen von nah und fern zum Fest ein. Bei der Menge an Gästen platzten Herbergen und Gasthäuser aus allen Nähten. Ein Problem, auf dass sich eine Lösung finden liess:

Dû mit den gesten, als ich las,
hûs unde stat gevüllet was
und man herberge in gewan,
daz man ir nimmer mochte hân,
dô sluoc man hütten und gezelt
alum die stat ûf daz velt
von pfelle und ouch von sîden.
ein vrôlîch herze lîden
wol mochte sunder leide
dise vrôlich öugelweide.
swer ûf dem hûse od in der stat
durch schouwen an die zinnen trat
und öugelweide wolde spehen,
der muoste in sînem herzen jehen,
daz er sêhe in alle wîs
hin in der vröuden paradis.

¹ Heinrich’s von Freiberg Tristan (1280)



Als mit den Gästen, wie ich gelesen habe,
Haus und Stadt voll war
und man Herberge für sie auftat,
wie man sie nimmer haben wollte,
da schlug man Hütten und Zelte auf,
um die ganz Stadt auf dem Feld,
aus Fell und auch aus Seide.
Ein fröhliches Herz mochte
wohl leiden, ohne Leid,
diese fröhliche Äugleinweide.
Wer auf dem Haus oder in der Stadt
zum Schauen an die Zinnen trat
und Äugleinweide erspähen wollte,
der mußte in seinem Herzen zugeben,
daß er in jeder Weise sehe
hin ins Paradies der Damen.

² Übersetzung von Dietmar Peschel (2020)

Das im Original benutzte öugelweide ist eine Diminiuativa (Verkleinerungsform). Gebräuchlicher war die Normalform ougenweide.

Nach der Hochzeit folgt die Hochzeitsnacht, in der die Ehe vollzogen werden sollte. Dabei wandern Tristans Gedanken zu Isolde 2, wodurch er seine Braut links liegen lässt. Ihre Ehe bleibt somit jungfräulich. Am nächsten Morgen erscheint die Mutter der Braut mit einer Schar Damen, die den frisch Vermählten Frühstück bringen.

Karsîen was ir tochter trût:
sie nam Tristandes wânbrût
und legte ir rîche cleider an,
als sie beste mochte hân,
und bant sie nâch der briute site
und gap in beiden hie mite,
ir eidem Tristanden
und ouch der wîzgehanden,
zu briutelabe stiure
ein petit menschiure.
daz âzen vor dem bette sie.
dô daz geschach, gein kirchen gie
die brût vor alle den vrouwen.
swer öugelweide schouwen
wolde unde herzen wunne spehen,
der mochte wunnenclîchen sehen
an diser vröuwelîchen schar
sîns herzen öugelweide zwâr.

¹ Heinrich’s von Freiberg Tristan (1280)



Karsie war die Vertraute ihrer Tochter;
sie nahm Tristans vermeintliche Braut
und legte ihr kostbare Kleider an,
so gut sie sie nur haben konnte,
und band sie nach der Sitte der Bräute,
und gab ihnen beiden hiermit –
855 ihrem Schwiegersohn Tristan
und auch der Weißhändigen –
als Beisteuerung das Frühstück nach der Brautnacht
in Form eines petit manger.
Das aßen sie vor dem Bett.
Da das geschehen war, ging zur Kirche
die Braut vor allen Damen.
Wer Äugleinweide schauen
wollte und Herzenswonne spähen,
der konnte wonniglich sehen
an dieser damenlichen Schar,
wahrlich, seines Herzens Äugleinweide.

² Übersetzung von Dietmar Peschel (2020)

Wem sich der Sinn der Zeilen nicht ganz erschliesst, sei unbesorgt. Damals bedeutete ougenweide einen allgemeinen Anblick, den etwas oder jemand bot. Dieser war nicht zwingend schön.
Der Autor Heinrich beschreibt mit seinem öugelweide durchwegs positive Erscheinungen.
Vom fröhlichen Anblick der vielen bunten Zelte bis zu der schönen Braut in ihren kostbarsten Gewändern.

Vermutlich wohnte dem Begriff bereits eine erfreuliche Nuance innen. Ich denke an unsere Kühe vom Beginn. Auch wenn sie sich an der ganzen Wiese laben können, bleiben sie am ehesten dort, wo das Gras am besten schmeckt.

So ist es auch mit unseren Augen. Unser Blick schweift über vieles. Dort, wo er extra lang verbleibt, der Anblick, an dem er sich besonders gütlich tut: Das nennen wir Augenweide.

Quellen

¹ Bechstein, Reinhold. 1877. Heinrich’s von Freiberg Tristan. Leipzig: F. A. Brockhaus.

² Peschel, Dietmar. 2020. Heinrich von Freiberg, Tristan-Fortsetzung. Erlangen: FAU University Press.